Schon seit längerer Zeit hatte Gourmet im Hemd einen besonderen kulinarischen Hotspot auf dem Zettel. Aber wie es manchmal so läuft, sind freie Tische am Wochenende doch rar gesät, hat der – in die 4. Liga abgerutschte – Herzensverein ein Heimspiel (verpassen geht gar nicht!), irgendwelche lästigen Pflichten warten oder die hinbringende Bahn hat sich für eine Streckensperrung entschieden…irgendwas ist immer! Doch: Was lange währt, wird endlich gut und so ging es im Januar dann nach Münster ins mittlerweile zweifach besternte „Coeur D’Artichaut“. An dieser Stelle möchte ich beichten, dass „Coeur“ in letzter Zeit – trotz 4 Jahren Schulfranzösisch – so ziemlich das meistfalschgeschriebene Wort überhaupt ist. Wer denkt sich nur so eine Buchstabenfolge aus. Quelle merde. 😉
Nebel des Grauens
Also gut, Münster in Westfalen. Auf zum Bahnhof und rein in den Wochenend-Feierabend-Verkehr. Glücklicherweise ist im Inter-City Richtung Emden dann doch genug Platz, um nicht dem Motto „genießen Sie das Leben in vollen Zügen“ zu huldigen. Zu Hause noch bei wolkig kaltem Wetter gestartet, wurde der Nebel auf dem Weg nach Westfalen immer dichter und dichter. Beim Blick aus dem Fenster wirkte das schon etwas gruselig. Aber für ein Foto vom Prinzipalmarkt hat die Witterung dann doch was…

Hinein in die gute Stube
Nach ein paar Runden Beine vertreten war Gourmet im Hemd dann aber froh, dass er aus der Kälte ins gemütliche Restaurant konnte. Schnell wurde klar: Das konservative Westfalen kann auch ganz locker und entspannt. Lässiger Smalltalk zum Empfang, gemütliches Ambiente im Restaurant und das Gefühl, dass sich das Team wirklich auf seine Gäste freut. Mag ich! 😉

Also: Aperitif geschnappt (schöner trockener Rosé-Schaumwein) und der Reigen aus einstimmenden Häppchen konnte losgehen. Besonders in Erinnerung geblieben ist dabei ein fluffig-schmelziges Bao-Bun und ein kleines frittiertes Kügelchen, was sich als Arancino herausstellen sollte. Super gut. Ein ganzes Schälchen davon hätte Gourmet im Hemd auch nicht abgelehnt.




Auch das darauf folgende Brot machte Lust auf mehr. Es gab u. a. Sauerteig-, Brioche und ein Algenbrot. Es würde jeden Tag frisch gebacken. Dazu zweierlei Butter, deren Zusammensetzung ich leider nicht behalten habe, die aber verdammt gut waren.

Jetzt gehts richtig los
Der erste Gang des Menüs dann Toro – also der fette Bauch – vom Balfego-Thunfisch mit Rettich und Ponzu. Rettich aus der Bretagne (das wird noch wichtig!) in allen möglichen Variationen gab eine ordentliche Schärfe, der Sud mit Ponzu eine frische Säure und der Toro (als Sashimi) war ohnehin ein Gedicht. Nur eine Erkenntnis reifte: Fan von Sake wird Gourmet im Hemd nicht mehr. Kann man trinken…muss man aber nicht.

Es folgt „Hummer & Cotriade, Orange und Fenchel“. Wie mir Frédéric Morel höchstpersönlich erläutert, ist der Hummer aus der Bretagne. Im Ofen geröstet und mit einer Orangen-Piment d’Espelette-Butter eingepinselt. Das Fleisch aus den Gelenken gibt es noch in einem Raviolo und den Fenchel als Salat, Püree und gegart. Dazu eine Cotriade, die wie ich lerne, eine Art Bouillabaisse ist…nur viel besser. Warum? Aus der Bretagne! Ihr dürft drei Mal raten, wo Monsieur Morel aufgewachsen ist. Ok ok, ein Mal raten reicht. Mir bleibt dazu zu sagen: Toller Hummer, sehr schmackhafter Sud und – mein heimlicher Held des Tellers – total genialer Fenchel. Hätte ich mich reinsetzen können.

Um Abschluss des Fisch-Phase kam dann „gegrillte Makrele, rote Bete & Kräuter“. Die Makrele ist auf Holzkohle gegrillt (laut Monsieur Morel eine Kindheitserinnerung) und mit geräucherter, gepickelter und gegarter Bete serviert. Dazu diverse frische Kräuter und eine kräutrige Sauce auf Basis von Leribo (wohl eine anfermentierte Buttermilch…ihr ahnt woher). Die Makrele ist sehr intensiv mit weichem Fleisch und knuspriger, leicht angekokelter Haut. Die Kräuter durchaus scharf, die Bete untypisch wenig erdig und mit Biss und die Sauce säuerlich-frisch. Ordentlich geballte Aromen, die die Geschmacksknospen ausloten. Aber auch einfach verdammt gut.

Aus dem Meer rauf aufs Land
Vor dem Wechsel von Fisch auf Fleisch ist landauf landab die Sorbet-Dichte (mit welchem Gerät kann man das messen?) hoch. Frisch, fruchtig und neutralisierend ist das Motto. Beim Blick auf den Menüplan sprang mir das aber nicht direkt ins Auge. Und so war „Puntarelle & Café de Paris“ dann auch alles andere als sorbetig. Puntarelle – lerne ich – ist ein Gewächs aus der Chicorée-Familie. Vulkanspargel sagt Wikipedia. Der freundliche Herr aus der Küche sagt „kann man roh nicht essen…viel zu bitter“. Na toll. Aber die kräftig geröstete Puntarelle kam mit reichlich Kräutern und Sardellen obenauf, einer cremigen Sauce auf Cafe-de-Paris-Basis und entsprechendem Puder. Immer noch recht herb, aber irgendwie auch erfrischend süffig. Happ und weg.

Der nahende Hauptgang klang zunächst wenig französisch…ähm Verzeihung…bretonisch. War er auch nicht. „Iberico-Schwein, Himmel & Ääd“ ist eine Hommage an die neue Heimat, das Münsterland. Das Iberico-Schwin ist superzart und geschmackvoll. Dazu eine kräftige Jus. Himmel (also der Apfel) ist in Form von Püree dabei, während die auch im Rheinland nie fehlende Blutwurst in einer Praline gereicht wird. Ääd (also die Kartoffel) findet sich auf dem Nebenteller. Unter dem unglaublich fluffigen Schaum aus Zwiebel und Cidre warten noch bewusst nicht ganz durchgegarte Kartoffel-Würfelchen. Eine tolle Interpretation des Wirtshausklassikers. Ehrlich: Ich hätte noch eine Portion verdrücken können!

Der folgende Käsegang „Comté 36 Monate & Zwiebelgewächse“ war dann das, was der Name versprach. Cremig kräftiger Käse umhüllt von Zwiebel in einem mit Kräuteröl verfeinerten Zwiebelsud. Nebendran noch eine Art Tartelette mit frisch geriebenem Käse und Bärlauchkapern. Lecker. Mehr aber auch nicht.
Zur Wahrheit gehört auch: Die großzügige Weinbegleitung hatte offenbar schon ihre Spuren hinterlassen, da mir erst nach einem beherzten Schnitt unter das Tartelette aufgefallen ist, dass Deko-Moos dann doch keinen kulinarischen Wert hat. Kurzer Kontrollblick…hat niemand gesehen…puhhh 😉

Etwas Süßes muss her
Das Pré-Dessert „Litschi, Rosen & Ingwer“ ist jedenfalls voll nach meinem Geschmack. Unterschiedliche Texturen von cremig bis knusprig. Eine zurückhaltende Süße von etwas Schokolade und der Litschi und eine kräftige Schärfe vom Ingwer. Dazu Granité von Koasaft und Rose (eingelegt und als Eis). Verdammt gut!

Das Hauptdessert „Original Beans Cusco, Marone & Birne“ ist dann geschmacklich eher auf der „dunklen“ Seite. Ein luftig schokoladiger Kuchen, Maroneneis und – wenn ich mich richtig erinnere – marinierten Birnenstücken. Seien wir ehrlich: Optisch hat es was von einem Unfall. Die Küche erläutert, dass es dem deutschen Spaghetti-Eis nachempfunden sein soll. Der leise Nebensatz: „In der Ausführung kein Highlight“ ist erfrischend ehrlich. Aber man soll ja den inneren Werten folgen ;-). Und da war es einfach lecker.

Die Kleinigkeiten zum abschließenden Espresso waren allesamt köstlich. Besonders interessant ein „Signature-Dish“ (im Vordergrund) auf Basis von Eukalyptus. Für ein Petit Four sehr kräftig mit ätherischen Aromen. Ich wusste zunächst nicht, was ich davon halten sollte, aber desto länger ich davon naschte, desto mehr gefiel mir der Hallo-Wach-Effekt.

Spannend und entspannt
Gut, dass mich der Nebel des Grauens nicht von diesem Ausflug nach Münster abgehalten hat. Die Küche war sehr spannend, mit vielen Details in der Herstellung der einzelnen Komponenten, die sich im Nachhinein kaum beschreiben lassen (liegt womöglich auch daran, dass die Gedächtnisleistung mit steigendem Weinkonsum exponentiell abnimmt; vielleicht muss Gourmet im Hemd mal in ein Notizbüchlein investieren). Der französische – ja ok, bretonische – Stil erzeugt hier für mich Wohlfühlküche die aber nicht langweilig wird. Der Service ist auffallend entspannt und herzlich und auch der Chef ist sich nicht zu schade, um durch den Gastraum zu gehen und Wasser nachzuschenken. Durch die offene Küche kommt auch abseits der Gänge keine Langeweile auf, denn anderen Leuten bei der Arbeit zuzugucken ist doch immer wieder schön 😉
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